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Interview: Vor- und Nachteile der Online-Beratung

Grafik eines Mikrofons

Vor- und Nachteile der Online-Beratung

Die Corona-Pandemie hat die Beratungsstellen vor neue Herausforderungen gestellt. Auch die Organisation "180 Grad Wende" musste auf digitale Formate der Beratung umstellen. In unserem Interview stellt Numan Özer die Vorteile und Grenzen der Online-Beratung dar.

Numan Özer ist stellvertretender Vorsitzender des Jugendbildungs- und Sozialwerk Goethe e. V. und Netzwerkkoordinator von 180 Grad Wende Keepers. Seit 2013 ist er für die Organisation 180 Grad Wende tätig und betreut unter anderem Präventionsmaßnahmen in mehreren Justizvollzugsanstalten, ein NRW-weites Präventionsnetzwerk sowie lokale und regionale Einzelfälle. Das Interview wurde im Oktober 2021 geführt.


Welche Formen der Beratung bieten Sie bei 180-Grad-Wende an?

Özer: Wir sind in der Prävention von religiös begründetem Extremismus tätig. Wir haben über viele Jahre ein Netzwerk in der Community mit muslimischem Selbstverständnis gespannt. Von dort werden die meisten Fälle vermittelt. Manchmal kommt es auch vor, dass Fälle über die Polizei oder die Justiz an uns herangetragen werden.

Bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie haben wir konventionelle Einzelfallberatung in unserer Beratungsstelle in Köln-Kalk angeboten. Mit Beginn der Pandemie konnten wir die Beratungen natürlich nicht mehr vor Ort durchführen. Wir haben dann recht schnell auf die Beratung per Telefon oder Videocall umgestellt. Die Videocalls laufen auf Basis der Open Source-Software BigBlueButton, die wir an unsere Anforderungen angepasst haben.


Bieten Sie auch Beratung per WhatApp oder per E-Mail an?

Özer: Per WhatsApp gibt es keine Beratung, aber man kann Termine vereinbaren. Wir wollten damit einen möglichst niedrigschwelligen Zugang schaffen. Unser WhatsApp-Telefon geben wir unter den Kolleginnen und Kollegen weiter, sodass man uns immer ganz schnell und einfach erreichen kann. Auch der Kontakt per E-Mail dient nur dazu, Termine auszumachen.


Gibt es auch Fälle, in denen sich Personen eine Beratung per WhatsApp oder E-Mail wünschen?

Özer: Nein, das gibt es nicht. Bei uns ist der persönliche Kontakt nach wie vor äußerst wichtig. Gerade bei neuen Fällen ist es so, dass man ein Vertrauensverhältnis nur aufbauen kann, wenn es ein persönliches Gespräch unter vier Augen mit einer räumlichen Zusammenkunft gibt. Die weiterführende Beratung kann dann übergangsweise auch über Videocalls und dergleichen stattfinden.


Sich per Video zu sehen ist also nicht ausreichend für den Beziehungsaufbau?

Özer: Es ist nicht dasselbe. Wenn Sie eine Online-Beratung durchführen mit jemanden, den Sie noch nicht kennen, dann bekommen Sie nicht dieses Vertrauensverhältnis, was ja die Basis für die Zusammenarbeit ist.


Sie wurden durch die Pandemie gezwungen, den „Videoweg“ zu öffnen. Haben Sie durch diese neue Möglichkeit denn auch Vorteile?

Özer: Auf jeden Fall. So war es möglich, mit Klientinnen und Klienten weiter zusammenzuarbeiten – gerade mit solchen, die schon ohnehin in einer schwierigen Situation waren. Es war ja nicht so, dass auf einmal die Probleme aufgehört hätten. Es musste weiter unterstützt werden und per Videocalls konnten wir unsere Beratung fortführen.


Können Sie absehen, welche Rolle die verschiedenen Beratungsformen zukünftig bei Ihnen spielen werden – nach der Pandemie?

Özer: Wir haben jetzt den technischen Unterbau, um in Zukunft bei bestehenden Klienten sagen zu können: "Weißt du was, wir machen jetzt einen kurzen Videocall und besprechen das ein oder andere." Das aber die persönliche Beratung vollends vom Digitalen ersetzt wird, das ist in unserem Arbeitsfeld nicht zielführend.


Welche Vorteile hat es für Sie und Ihre bestehenden Klientinnen und Klienten, ab und zu Videocalls durchzuführen?

Özer: Es hat den Vorteil, dass man nicht anreisen muss. Es ist eine Zeitersparnis. Unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist es so möglich, mehr Fälle in kurzer Zeit abzuwickeln. Wir haben außerdem die Erfahrung gemacht, dass ein Beratungsgespräch per Videocall schneller vorbei ist als ein Beratungsgespräch, das man persönlich führt. Bei Videocalls kommt man schneller zum Punkt. Leider ist es aber so, dass man gerade bei den Erstgesprächen den Klienten beziehungsweise die Klientin nur sehr eingeschränkt wahrnehmen kann und es auch erschwert ist, ein Vertrauensverhältnis zum Beratungsfall aufzubauen.


Gibt es Klientinnen und Klienten, die Bedenken haben, per Videocall über bestimmte Themen zu sprechen?

Özer: Ja, das gibt es auf jeden Fall. Die Nachfrage: "Wird das jetzt mitgeschnitten?" kam öfter. Es ist immer wieder angeklungen, dass den Klienten unwohl war.


Was sind das für Themen, die Klienten nicht per Video besprechen möchten?

Özer: Es können persönliche Kontakte sein, es können Denkweisen sein, es können Ereignisse innerhalb der Familie sein, es kann der Ausdruck gewisser Glaubenssätze sein. Teilweise sind es auch Themen, die strafrechtlich relevant sein könnten.


Was könnte das zum Beispiel sein?

Özer: Ich habe ein konkretes Beispiel. Da ist ein junger Mann, der sich im Spektrum des religiös begründeten Extremismus aufgehalten hat. Er berichtete, dass vor längerer Zeit was passiert sei. Er hat dann im Internet etwas geäußert gegenüber einer Person, die Teil des öffentlichen Lebens ist. Und diese Person hat das Ganze zur Anzeige gebracht. Mein Klient hat mir gesagt, dass er auch einen Brief bekommen hat, dass er mir das aber doch persönlich zeigen möchte und nicht mehr darüber gesagt. Im Nachhinein hat er mir dann die Anklageschrift gezeigt.


Können Sie noch etwas über Ihr „Digital Streetwork“ berichten?

Özer: Wir wussten, dass unsere Zielgruppe – junge Menschen zwischen 13 und 26 Jahren – im Zuge der Corona-Lockdowns viel Zeit zuhause verbracht und soziale Medien konsumiert hat. Zum ersten Lockdown haben wir daher unser „Digital Streetwork“ begonnen. Hiermit wollten wir junge Menschen dort abholen wo sie sind, nämlich im digitalen Raum. Wir wollten gewährleisten, dass sie unserem Netzwerk nicht verloren gehen und vor allem sichtbar sein. Über unsere Social Media-Kanäle – vor allem Instagram – haben wir zu Themen publiziert, die interessant sind. Außerdem haben wir Broadcast-Gruppen auf WhatsApp erstellt, haben Kurzvideos veröffentlicht und zu Challenges eingeladen.


Was für Challenges waren das?

Özer: Da ging es zum Beispiel um Ernährung oder Sport – also gar nicht so das Themengebiet, in dem wir sonst aktiv sind. Wir wollten einfach die Nachricht senden: Wir sind da. Ihr könnt uns erreichen. Wir haben im Ramadan, der während des ersten Lockdowns stattgefunden hat, eine Geschenkbox-Aktion gemacht. Es ging uns darum, das bestehende Netzwerk am Leben zu erhalten, was eine große Herausforderung zur Zeit von Corona war.


Und wie hat Ihre Community darauf reagiert?

Özer: Anfangs waren die Rückmeldungen sehr gut. Ende 2020 und Anfang 2021 hat das Engagement immer weiter abgenommen. Wir hatten auch einen Teil unserer Gruppenangebote ins Digitale hinein verlegt, also nicht nur die Einzelfallberatung. Die Anzahl der Teilnehmenden ist dann jedoch sehr zurückgegangen. Wir führen das auf eine gewisse Überreizung mit digitalen Angeboten zurück. Mittlerweile steigt das Interesse an unseren digitalen Angeboten wieder, das ist ganz interessant.


Wie bewerten Sie die Möglichkeiten, die das Digitale für die Soziale Arbeit und die Präventionsarbeit bietet?

Özer: Wir stehen dem aufgrund unserer Erfahrungen ein wenig kritisch gegenüber. Für uns würde es nicht funktionieren, unser gesamtes Angebot nur noch online anzubieten. Es ist eine Ergänzung, die Vorteile mit sich bringt, aber es ist nicht die alleinige Zukunft.